Lampedusa in Hamburg – Recht zu bleiben!
Appell an den Hamburger Senat, der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ ein Bleiberecht nach dem § 23 Aufenthaltsgesetz oder einer anderen Konstruktion, die eine Gruppenlösung erlaubt, zu geben
„Was Europa nicht versteht, ist, dass die Bewegungen von Migrant_innen nicht von ihm abhängen. Nur die Bedingungen dieser Bewegungen hängen von ihm ab.“ (Coordinamento Migranti)
An Herrn Olaf Scholz, Erster Bürgermeister von Hamburg, und an den Hamburger Senat
Seit Frühjahr 2013 leben in Hamburg etwa 300 afrikanische Flüchtlinge, die dem libyschen Bürgerkrieg und dessen Eskalation durch die militärische Intervention der NATO entkommen konnten und dann über Lampedusa nach Italien gelangten. Diese Menschen (in der Mehrheit Männer) waren Arbeitsmigranten in Libyen, wo sie ihren Lebensunterhalt verdienten und Geld nach Hause an ihre Familien oder communities schickten. Als das EU-Programm für Geflüchtete aus dem Libyenkrieg endete, wurden sie auf die Straße gesetzt. Sie bekamen alle eine Anerkennung als Flüchtlinge, aber ihre Papiere erlauben ihnen nur in Italien, zu arbeiten und sich niederzulassen. Wegen der wirtschaftlichen Krise und der fehlenden Unterstützung von Seiten der italienischen Behörden waren sie nicht in der Lage, in Italien ein selbstbestimmtes Leben zu führen und kamen nach Hamburg, um hier ihr Leben wieder aufzubauen, ähnlich wie es andere in verschiedenen europäischen Ländern versuchen. Aber hier werden sie behandelt als hätten sie keine Rechte. In Hamburg fanden sie zunächst Schlafplätze im Winternotprogramm der Stadt. Als diese Plätze geschlossen wurden und sie auf der Straße gestrandet waren, organisierten sie sich als Gruppe und starteten eine Kampagne für ihr Recht zu bleiben. Seitdem haben sie die Unterstützung von vielen Basisgruppen, der Evangelischen Kirche, islamischen Gemeinschaften, der Gewerkschaften ver.di und GEW und von immer mehr Bürger_innen Hamburgs gefunden. Einige von ihnen schlafen in Moscheen, andere an privaten Orten oder immer noch auf der Straße, und die größte Gruppe von etwa 80 Flüchtlingen hat Obdach in der St. Pauli-Kirche bekommen. Sie haben Freund_innen in der Nachbarschaft gefunden: der lokale Fußballverein, FC St. Pauli, unterstützt sie, das Ensemble des bekannten Thalia Theaters las einen neuen Text der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek zur Flüchtlingsfrage zusammen mit Mitgliedern der Gruppe in der Kirche. Ihr Kampf für ein Recht zu bleiben wurde zu einem Kampf gegen die europäische Flüchtlingspolitik der Ausgrenzung. In Hamburg ist er bereits ein Hauptthema in den Medien und in der Alltagskommunikation der Menschen.
Wir akzeptieren nicht, dass Sie, der Bürgermeister und der Senat von Hamburg, behaupten, für diese Flüchtlinge sei Italien zuständig. Wir akzeptieren nicht, dass Sie Kontrollen in rassistischer Form (racial profiling) angeordnet haben, um diese Menschen festzunehmen und abzuschieben, ohne zu berücksichtigen, wie die konkrete Situation von Geflüchteten in Italien ist. Viele deutsche Gerichte haben schon entschieden, dass Italien ebenso wie Griechenland kein Ort ist, an dem heute die Menschenrechte von Flüchtlingen respektiert werden. Sie weigern sich nicht nur, direkt mit diesen Kriegsflüchtlingen und ihren Rechtsanwält_innen zu sprechen, um eine gemeinsame Lösung für sie zu finden, sondern Sie haben auch angekündigt, dass ihnen Plätze im nächsten Winternotprogramm verweigert werden. Dies ist nicht nur unmenschlich, es ist beschämend in einer der reichsten Städte Europas. Jetzt haben Sie sogar begonnen, direkt gegen die Bemühungen der Kirche und ihrer Unterstützer_innen zu handeln, die versuchen, ein eigenes Winternotprogramm für diese Flüchtlinge zu organisieren. Das ist nicht hinnehmbar. Es ist wie eine Kriegserklärung gegen zivilgesellschaftliches Engagement. Einer Gruppe von Menschen alle Rechte und Möglichkeiten zu überleben zu nehmen ist rassistisch. Diese Handlungen können nicht erklärt oder gerechtfertigt werden mit den gesetzlichen Vorschriften der europäischen Flüchtlingspolitik. Ganz im Gegenteil, dies zeigt deutlich, wie dringend diese ausgrenzende Politik und Gesetze abgeschafft werden müssen.
Am 3. Oktober starben mehr als 300 Menschen, nachdem ein Boot mit Hunderten von Migrant_innen vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa untergegangen war. Politiker_innen, einschließlich der EU-Kommissarin für Innenpolitik, Cecilia Malmström, riefen EU-Mitgliedsstaaten dazu auf, „Solidarität zu zeigen sowohl mit Migrant_innen als auch mit Ländern, die steigende Migrationsströme erleben“. Und der Papst nannte das, was vor Lampedusa geschah, „eine Schande“ und rief auf, für die Opfer zu beten. Aber tatsächlich zielt das EU-Grenzregime mit Visabestimmungen, Frontex, hochentwickelten technischen Systemen wie EUROSUR, das nur wenige Tage nach dem tödlichen „Unfall“ verabschiedet wurde, und der Zusammenarbeit von Küstenwachen auf beiden Seiten des Mittelmeers, die sogar auf Bootsflüchtlinge schießen, darauf ab, Flüchtlinge und Migrant_innen daran zu hindern, Europa legal und ohne Lebensgefahr zu erreichen. Sogar die Hilfe für boat-people wird kriminalisiert.
Wenn Migrant_innen es schaffen, in Europa anzukommen, beschränken Abkommen wie Dublin II/III und Schengen die Bewegungsfreiheit von Menschen, die keine EU-Bürger_innen sind. In diesem Jahr sind mehr als 25.000 Migrant_innen per Boot in Italien angekommen, dreimal mehr als im Jahr 2012, aber Länder in der Mitte Europas, insbesondere Deutschland, weigern sich weiterhin, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und versuchen, alle, die über Italien kamen, zurück zu schicken, trotz gegenteiliger Gerichtsentscheidungen. Die Bürgermeisterin von Lampedusa drohte, die Särge toter Bootsflüchtlinge an die Regierungen zu schicken, die sich weigern, diese Abkommen zu verändern.
Überall in Europa und jenseits seiner Grenzen kämpfen Flüchtlinge und Migrant_innen gegen diese unmenschliche Politik:
– Geflüchtete aus dem Libyenkrieg im Wüstenlager Choucha an der tunesischen Grenze fordern eine Aufnahme in sicheren Ländern (Resettlement), aber nach vielen Protesten in Tunesien und Europa durften nur 201 Menschen (von etwa einer halben Million, die aus dem Libyenkrieg nach Tunesien flohen), legal nach Deutschland einreisen. Andere europäische Staaten nahmen nur drei (Großbritannien) bzw. einen (Frankreich) Flüchtlinge auf. Ungefähr 400 Menschen sind immer noch im Lager, das offiziell Ende Juni geschlossen wurde, andere organisieren seit sechs Monaten ein Sit-in vor dem UNHCR-Büro in Tunis. – In Marokko stürmten Hunderte von Migrant_innen im September die Zäune der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla und etwa 300 erreichten „europäischen“ Boden. – Auf Lampedusa weigerten sich im Juli etwa 250 neu angekommene Flüchtlinge, ihre Fingerabdrücke abzugeben, um nicht nach Italien zurück geschickt zu werden, wenn sie in andere Länder weiterreisen. – Geflüchtete in Wien, Paris, Brüssel, Amsterdam und anderen Städten haben Kirchen und andere Gebäude besetzt, weil sie auf die Straße gesetzt und mit Abschiebung bedroht wurden. – Und überall in Deutschland kämpfen Tausende von Flüchtlingen gegen Abschiebung und die Verpflichtung, in Lagern zu leben, für Bewegungsfreiheit und Bleiberecht.
Die mehr als 300 afrikanischen Flüchtlinge, die ihre Gruppe „Lampedusa in Hamburg nennen, haben Abschiebung und aktive Ausgrenzung erlebt, seit sie Opfer des Krieges und der NATO-Intervention in Libyen wurden. Sie brauchen jetzt eine Gruppenlösung. Sie, der Bürgermeister und der Hamburger Senat, haben die Möglichkeit, diese Lösung zu gewähren z.B. mit dem § 23 des Aufenthaltsgesetzes. Dies ist eine Gelegenheit, ein positives Beispiel für andere europäische Städte zu geben und darüber hinaus Mut zu machen für eine andere europäische Politik gegenüber Flüchtlingen, die wir alle brauchen. Wir, Menschen, die glauben, dass Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Bewegungsfreiheit, überall respektiert werden müssen, bringen unsere Unterstützung zum Ausdruck für Geflüchtete, die die Schrecken von Krieg und Vertreibung erlebt haben.